Kiel. Die drastische Zunahme der Baukosten hat zu einem alarmierenden Rückgang im Wohnungsbau geführt, während der Bedarf an Wohnraum in Deutschland weiterhin wächst. Experten sind sich einig, dass unnötig hohe, vor allem technische Standards überdacht werden müssen, um Kosten zu senken, Ressourcen zu schonen und damit CO2-mindernd zu bauen.
Georg Schareck, Hauptgeschäftsführer von Die Bauwirtschaft im Norden, betont: “Wir müssen von den hohen Standards abrücken, die rund 3.300 Bauvorschriften ausdünnen und das rechtlich fixieren, um Rechtssicherheit gegenüber dem Status quo zu schaffen.” Beim Baugerichtstag hatte der Arbeitskreis Normung Empfehlungen zur Abweichung von anerkannten Regeln der Technik ausgesprochen; vor diesem Hintergrund lädt das Bundesjustizministerium am 16. Oktober 2023 zu einem Verbändegespräch ein; dabei der Zentralverband Deutsches Baugewerbe (mit Anmerkungen der Landesverbände). Im Vorfeld hatten bereits der Baugewerbeverband Schleswig-Holstein und der Wirtschaftsverband Bau-Nord am 5. Oktober in Kiel einen Fachtag veranstaltet, um die Senkung der allgemein anerkannten Regeln der Technik zu diskutieren und deutliche Forderungen zu positionieren.
“Wir setzen uns dafür ein, dass nachhaltiges Bauen nicht mehr durch teilweise veraltete allgemeine Regeln der Technik verhindert, sondern zukunftsorientiert gestaltet wird. Dafür sind flexible Lösungen erforderlich und die Politik muss dafür Sorge tragen”, betont Schareck. Der Verbandschef verspricht sich vom Arbeitskreis in Berlin, dass das Werkvertragsrecht flexibler gestaltet wird, ohne dabei die Sicherheit zu vernachlässigen. Das würde bedeuten, dass die allgemein anerkannten Regeln der Technik dynamisiert würden und gleichzeitig ein gesetzgeberischer Akt zur Flexibilisierung dieser technischen Vorgaben zügig auf den Weg gebracht würde.
„Ziel muss es sein, das Bauen wieder auf die Kernanforderungen des Baurechts zu reduzieren. Das würde das Bauen vereinfachen und beschleunigen, Materialien bis zu 30 Prozent einsparen, die Kosten reduzieren und den CO2-Anteil verringern“, sagt Schareck. Hierfür bedürfe es grundlegender Änderungen im Allgemeinen Baurecht insbesondere Klarstellungen zur Anwendung für allgemeine Regeln der Technik.
Über die Notwendigkeit zu Änderungen im Allgemeinen Baurecht und in den allgemeinen Regeln der Technik wurde in Kiel ausführlich diskutiert und das Ganze mit Beispielen unterlegt. Einen Vortrag hierzu hatte auch Rechtsanwalt Michael Halstenberg (VHV Hannover) gehalten. Es werde zunehmend offensichtlich, dass es einen Widerspruch in den etablierten Technikregeln gebe.
Diese allgemein anerkannten Regeln leiteten sich traditionell aus der Erfahrung ab, wodurch sie nicht einfach aufgrund ihrer Existenz anerkannt seien, sondern sich über einen längeren Zeitraum in der Praxis bewähren müssten. Dies könne dazu führen, dass sie den Fortschritt neuer technischer Entwicklungen hemmten oder verhinderten, so der Experte.
Besonders im Kontext nachhaltiger Bauweisen wird deutlich, dass zukünftige Anforderungen oft im Konflikt mit den langjährig bewährten Grundsätzen stehen. Dies erfordert Anpassungen für die Zukunft, die mit den etablierten Praktiken in Teilen in Konflikt geraten können.
Beispiel 1: Der Erhalt des Baubestandes ist entscheidend für die Erreichung der Klimaziele. Über 90 Prozent der vorhandenen Bauwerke entsprechen aber nicht den heute gültigen Vorschriften. Das bedeutet, dass die nachhaltige Bestandssanierung nur funktionieren kann, wenn man an diese nicht den Vorschriftenstandard von heute anlegt. „Wir fordern alle Baubeteiligten auf, nur das umzusetzen, was für das Bauwerk angemessen ist”, fordern Halstenberg und Schareck unisono. Hierzu gibt es Lösungsvorschläge für die Landesbauordnung, die schnell und praxisgerecht Klarheit schaffen können.
Beispiel 2: Viele bautechnische und allgemeine Regeln der Technik wurden über längere Zeiträume als Standards entwickelt. Die Anpassung von Vorschriften an die sich in den letzten Jahren deutlich verändernden regionalen Schlechtwetterbedingungen und klimatischen Veränderungen wird jedoch zum Beispiel nicht berücksichtigt. Schadensberichte an Gebäuden stimmen heutzutage häufig nicht mehr mit früher identifizierten Schlechtwetterregionen und ihren technischen dazu abgeleiteten Regeln überein. Das führte Heike Böhmer, Geschäftsführerin am Institut für Bauforschung Hannover, aus.
So wären in Schleswig-Holstein die Maßnahmen zur Schneelast nicht erforderlich, die in anderen Regionen relevant seien. Diese schränken hier die Belastbarkeit der Dächer für Photovoltaikmodule unnötigerweise ein. Daher ist es wichtig, Vorschriften an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen. Nur so ist es auch möglich, die exorbitant steigenden Schadensfälle im Bestand (alleine bei den VHV Versicherungen mindestens zwei pro Tag) zu begrenzen.
Beispiel 3: Der überwiegende Teil der heutigen Gebäude wurde nach älteren, einfacheren Schallschutzregeln errichtet, die den Schutzwerten entsprachen, die bei der Errichtung der Gebäude gültig waren. Kostensenkend wäre die Möglichkeit, die heute geltenden, deutlich höheren Schallschutzanforderungen auf die Substanz des Bauwerks angemessen anzupassen.
Beispiel 4: In vielen Bauverträgen stehen allgemeine Formeln, die lediglich der Absicherung dienen und pauschal auf verschiedene Regeln, Gesetze, DIN-Regelungen, Empfehlungen etc. verweisen, die sich teilweise sogar inhaltlich widersprechen. Halstenberg fordert deshalb alle Beteiligten auf, auf solche „Selbstbeschäftigungsklauseln“ und „Haftungskarussell-Regeln“ zu verzichten und damit wieder mehr Rechtssicherheit zu schaffen.